Herner Fahrzeug-Historie

"Ein Herner Pinguin im Angebot!"

Das hat nichts mit dem Ausverkauf des örtlichen Tierparks zu tun. Die Produktion des sogenannten Automobils ist ebenso Herner Realität in den 50er Jahren wie die Kohleförderung in den Pütts oder die Petticoat-Mode." So lautet das Vorwort in dem von Wolfgang Bruch verfassten Bildband "Pinguine, Pütts und Petticoats" aus dem Jahre 2001.

Doch was hat es mit diesem "Pinguin" auf sich?

Lesen Sie hierzu die nachfolgende Kurzabhandlung:

Im Mai 1953 gründete Romanus Müthing aus dem Sauerland die M.E.V. Studiengesellschaft für Fahrzeugentwicklung. Dem Landmaschinenvertreter war es nicht recht, als Autofabrikant aufzutreten, deshalb sollte die M.E.V. Studiengesellschaft in Herne die Entwicklung eines Fahrzeugmodells zur Serienreife betreiben. Betriebsleiter der M.E.V. wurde Heinz Elschenbroich, der in Herne schon bald eine kleine Halle anpachtete. Hier baute der Ingenieur Kurt Volkerath mit einigen Leuten den ersten Zentralrohrrahmen zum geplanten Dreirad mit einem 200-ccm-Einzylinder-Zweitaktmotor.

Mit dem fahrbereiten Chassis und einem notdürftig montierten Sitz begannen bald die Erprobungsfahrten. In der Zwischenzeit dengelten Mitarbeiter die Teile zur ersten Karosserie. Bei der zweiten Blechhaut kamen die Experten der Vereinigten Deutschen Metallwerke in Werdohl zur Hilfe. Sie hatten ein Verfahren entwickelt, mit dem man Aluminiumbleche ohne große Presswerkzeuge warm verformen konnte. Pünktlich zum Zweiradsalon im September 1953 in Frankfurt waren die beiden ersten Prototypen komplett.

Der "Pinguin" erweckte viel Interesse in der Presse und beim Publikum. Wegen seiner entfernten Ähnlichkeit zu den Porsche-Fahrzeugen hatte der Pinguin bald seinen Spitznamen weg: Man sprach vom "Porsche auf 3 Rädern". Die langgestreckte Form gefiel. Auch wenn im Prospekt geschrieben stand: "Kein Wunschtraum - sondern Wirklichkeit", so war der Pinguin noch weit vom Serienbau entfernt.

Nach der Entwicklung des Prototypen hatte die M.E.V. Studiengesellschaft ihren Zweck erfüllt und wurde umgetauft zur "Ruhrfahrzeugbau - R. Müthing, Herne." Nun galt es, die beiden Fahrzeuge bis zur Serienreife zu erproben. So wurde u.a. ein Pinguin im Oktober 1953 nach Pinneberg verbracht, wo eine Firma ausführliche Messungen zur Ermittlung der Fahrwiderstände durchführte. Die gesamte Entwicklung kostete Müthing eine Menge Geld, das vorläufig der Verkauf der Landmaschinen wieder einbringen musste. Als Autofanatiker kümmerte ihn das anfangs nicht. Doch im Winter 1953 zeigte sich, dass die Finanzlage zunehmend schwieriger wurde. Bisher hatte Müthing ca. 80.000,00 DM in den Pinguin gesteckt.  Mit weiteren Produktionskosten musste er rechnen bis der Pinguin serienreif sein würde. Ihm wurde klar, dass er dieses Projekt alleine nicht stemmen konnte. Da er auch keine neue Gesellschaft gründen wollte, begann er im Januar 1954 einen Lizenznehmer zu suchen. Dieser sollte den Pinguin in Serie bauen. Die meisten, die er ansprach, sagten ab.

Als ernsthafter Interessent zeigte sich schließlich der Motorrollerfabrikat Jakob Hoffmann aus Lintorf. Allerdings musste Müthing ihm im Februar 1954 mitteilen, dass eine Umkonstruktion des Fahrzeuges erforderlich sein würde. Es hatte sich herausgestellt, dass die Prototypen zu instabil waren. Das gesamte Projekt drohte daran zu scheitern. In seiner Not fuhr Müthing zum Konstrukteur des Fuldaer Mobils Norbert Stevenson nach Fulda. Er gewann diesen für eine Tätigkeit beim Ruhrfahrzeugbau. Hier konstruierte er das Fahrgestell völlig um. Statt des bisherigen Zentralrohrrahmens erhielt der Pinguin nun einen Doppelrohrrahmen. Die als unsicher empfundenen ersten Prototypen waren nunmehr haltbarer und sicherer Dank der veränderten Konstruktion von Stevenson. Auch die Karosse des Fahrzeuges wurde ein weiteres Mal umgearbeitet. Hierbei wirkte die Karosseriefirma Wickenbrock aus Recklinghausen mit. Der nächste Pinguin wurde völlig umgebaut.

Müthing erkannte, dass ein Zweisitzer nur begrenzte Verkaufschancen hatte. Deshalb erhielt das Fahrzeug jetzt eine hintere Sitzbank. Für diese neue Ausführung fand sich ein Lizenznehmer: Rudolf Stierlen, Inhaber der Rothenburger Metallwerke, baute bisher Landmaschinen und suchte einen neuen Geschäftszweig. Per Zeitungsannonce fanden Müthing und Stierlen zusammen. Dieser engagierte sich finanziell beim Ruhrfahrzeugbau und gab zwölf Versuchsfahrzeuge in Auftrag. Zwei dieser Wagen sollten nach Fertigstellung auf  eine 35.000 km lange Erprobungsfahrt geschickt werden. Erst wenn diese Tour zur Zufriedenheit verlief, wollte Stierlen einen Vertrag mit Müthing machen.

Im Mai 1954 rollten die beiden ersten Fahrzeuge der von Stevenson verbesserten Baureihe auf die Straße. Im Juli 1954 lieferte Müthing die bestellten 12 Fahrzeuge bei Stierlen ab. Einen richtigen Vertrag gab es allerdings nicht. Die Serienproduktion sollte nicht mehr in Herne stattfinden. Werkzeuge, Geräte, Zeichnungen, Büromöbel und Personal schaffte man im August 1954 nach Schweinfurt. Müthing glaubte fest daran, dass der Serienbau seines Kleinfahrzeuges kurz vor dem Beginn stünde. Erstaunlicherweise geschah jedoch nichts.

Inzwischen wurden auf dem Markt andere Kleinfahrzeuge vorgestellt (z.B. Goggomobil, Kabinenroller, Isetta). Stevenson und Stierlen wiesen Müthing darauf hin, dass die Pinguin-Konstruktion nicht mehr zeitgemäß sei. Im Dezember 1954 ließ Stierlen wissen, dass er den Pinguin nicht mehr bauen würde. Dementsprechend wurden alle Mitarbeiter entlassen, die Stierlen erst vor einem knappen Jahr aus Herne geholt hatte. Die Rothenburger Metallwerke gingen im Januar 1956 in den Besitz einer anderen Firma über, das Zweitwerk Schweinfurt wurde ganz geschlossen. Um den Pinguin kümmerte sich niemand mehr. Er geriet völlig in Vergessenheit.

Es existieren leider nur ganz wenige Fotos von den Fahrzeugen, Mitarbeitern und Räumlichkeiten. Zwischenzeitlich ist Herr Müting im Sauerland verstorben, ein Mitarbeiter, der seinerzeit in Herne gearbeitet hat, lebt noch in Herne. Die Produktionsstätte selbst an der Baumstraße in Herne ist noch vorhanden, wird allerdings anderweitig genutzt.

(Quelle: Rosellen, Deutsche Kleinwagen, Weltbildverlag, 1991)

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